Sprachgranate aus dem Untergrund
Nelli Lotter
HACKFLEISCH präsentiert stolz seine zähnefletschende Straßenkönigin!
WARNHINWEIS FÜR ZARTBESAITETE LESERATTEN
Geworfen: 1966 in "Scheißloch Recklinghausen" (Originalton Nelli)
Lebenslauf: Straßenkind, Punkerin, Junkiebraut, Knastgängerin, Überlebenskünstlerin, Wurstbudenfachkraft
Sprach-Zerstörungskraft: Unberechenbar hoch (Achtung: Verbrennung der Sprachzentren möglich)
Erkennungszeichen: Geflicktes Gesicht mit Raucherfalten und Narbe über der Braue, verblasste DIY-Tattoos an den Unterarmen, schwarz gefärbte Haare mit grauem Ansatz, Arbeiterinnenhände mit Fettnarben, Doc Martens als einzige Schuhe, Blick wie "komm mir nich blöd"
Textmunition: Kurzgeschichten-Sammlung "Kohldampf und Knast", Roman "Emmakind", laufende HACKFLEISCH-Verwüstungen
Bevorzugtes Schreibgerät: Abgekauter Kugelschreiber auf zerknittertem Papier
Natürlicher Lebensraum: Ein-Zimmer-Höhle in St. Pauli mit Blick auf Mülltonnen
DIE FRESSE EINER ÜBERLEBENDEN
Wer Nelli Lotter zum ersten Mal sieht, denkt nicht "Autorin". Eher: Frau, die dir an der Pommesbude die Currywurst reicht und dabei aussieht, als könnte sie dir auch die Fresse polieren, wenn du blöd kommst.
58 Jahre, und jedes einzelne davon ins Gesicht gemeißelt. Nicht die eleganten Falten einer Weintrinkerin aus Blankenese – sondern die tiefen Furchen einer Frau, die zu oft draußen geschlafen, zu viel geraucht und zu wenig gegessen hat. Die Raucherfalten um den Mund wie Strichcodes eines kaputten Lebens. Eine kleine Narbe über der linken Augenbraue, deren Geschichte sie niemandem erzählt.
Der Körper: kompakt, kräftig, ein paar Kilo über dem, was Frauenzeitschriften erlauben würden. Aber das ist kein Sofafett – das sind Jahre an der Fritteuse, Kisten schleppen, Stehen von morgens bis abends. Breite Schultern, Unterarme wie eine Hafenarbeiterin. Die Hände erzählen mehr als jeder Lebenslauf: kurze Nägel, rauhe Haut, kleine Verbrennungsnarben von heißem Fett, die Knöchel leicht verdickt von Schlägen, die sie ausgeteilt hat.
Von der Punk-Zeit ist äußerlich wenig geblieben. Die hochtoupierte Wasserstoffperoxid-Stachelfrisur von damals existiert nur noch auf vergilbten Fotos. Stattdessen: verblasste Tätowierungen an den Unterarmen – DIY-Arbeit aus den 80ern, blaugrün ausgelaufen, ein Anarchie-A, das jetzt aussieht wie ein Tintenfleck. Mehrere Ohrlöcher, aber nur zwei noch bestückt mit kleinen Stahlsteckern. Ein angelaufener Silberring am rechten Ringfinger, den sie nie abnimmt.
Aber die Augen – die Augen sind das, was bleibt. Wach, hart, mit einem bitteren Humor drin, der sagt: Erzähl mir nix, ich hab alles gesehen. Und überlebt. Der Blick einer Frau, die weiß, daß sie eigentlich längst tot sein müßte, und die jeden Morgen aufsteht, um dem Universum zu zeigen, daß sie immer noch da ist.
HARDCORE-BIOGRAFIE EINER ÜBERLEBENDEN
Wenn wir bei HACKFLEISCH über Nelli Lotter sprechen, dann nicht mit dem üblichen literaturkritischen Gelaber, sondern mit dem Respekt, den man einer Granate entgegenbringt, bevor man die Sicherung zieht. Diese Frau ist keine "Autorin" – sie ist ein wandelndes Stück deutsche Straßengeschichte, das mit blutiger Tinte schreibt.
GEBURT IM SCHEISSLOCH
Nellis Leben liest sich wie ein Schlachtprotokoll, das kein Mainstream-Verlag je drucken würde. Geboren 1966 im selbstbenannten "Scheißloch Recklinghausen", wuchs sie bei einer Alkoholikerin auf, die ihr täglich einhämmerte, daß sie "ihr Lehm versaut" hat. Der Vater blieb ein Phantom – "n' Furz im Wind", wie Nelli es formuliert. Eine Kindheit ohne Kuscheltiere, dafür mit blauen Flecken und dem permanenten Gefühl, ein Fehler zu sein.
Mit zwölf Jahren endete ihre "Bildungslaufbahn" abrupt, nachdem sie ihre Lehrerin als "scheißvadammta Kluchscheißa" bezeichnet hatte – ein frühes Anzeichen für Nellis unnachahmliche Sprachgewalt. Die Schule hatte sie ohnehin nur als Abstellgleis für hoffnungslose Fälle erlebt, als Wartesaal für das vorprogrammierte Scheitern.
STRASSENSCHULE UND PUNKERWEIHE
Mit dreizehn haute sie endgültig aus dem "Scheißvapißhaus" ihrer Mutter ab und begann ihr Leben auf der Straße – zunächst in Dortmund, dann in Köln auf der Domplatte, wo sie ins Milieu der ersten Punks und Straßenkids geriet. Stehlen lernte sie aus Notwendigkeit, sich mit Fäusten verteidigen aus Überlebenstrieb. Früh legte sie einen Schwur ab, der ihr Leben prägen sollte: "Egal wie scheißekalt's is oder wie doll der Magen knurrt – lieba friere ick oder klaue, als daß mir irgend'n Wichsa an die Wäsche jeht."
1981 entdeckte sie die aufkommende Punkbewegung – ihre "scheißvadammte Rettung", wie sie es nennt. Die "explodierten Farbfrisen" zeigten ihr, daß es in Ordnung war, anders zu sein, daß Ausgestoßensein auch eine Form von Freiheit bedeuten konnte. Der Punk gab ihr die Stammeszugehörigkeit, die sie nie gekannt hatte.
KREUZBERGER KREUZZÜGE
Berlin lockte sie wie ein Magnet. Die frühen 80er verlebte sie in besetzten Häusern in der Oranienstraße, hauptsächlich rund um den "Kotti" (Kottbusser Tor). Ihr Erscheinungsbild wurde zur Kriegserklärung: rasierter Schädel bis auf eine bunte Strähne in der Mitte, Lederjacke mit handgemalten Anarchie-Symbolen, Springerstiefel mit Stahlkappen – nicht als Fashion-Statement, sondern als Waffe.
Diese Zeit beschreibt sie als die "irrsinnigsten Jahre meines verschissenen Lebens, so voller Wut und Energie". Sie beteiligte sich an Hausbesetzungen, skandierte "WENN KAPUTT DANN WIR SPASS!" und geriet regelmäßig mit der Polizei aneinander. Berlin war nur die Homebase – Nelli war ständig in Deutschland unterwegs, von Wuppertaler Punktreffen zur Düsseldorfer Kiefernstraße, von Hamburg bis München.
In dieser Phase entwickelte sie auch ihren unverwechselbaren Sprachbastard – ein Gemisch aus Ruhrpott-Slang, Berliner Dialekt und anderen regionalen Mundarten, angereichert mit kreativen Flüchen und Wortschöpfungen. Eine linguistische Straßenwaffe, die klang, als hätte jemand alle deutschen Dialekte in einen Mixer geworfen und auf Stufe "Zerhäckseln" gestellt.
KNAST UND CHEMIEEXPERIMENTE
Der Wendepunkt kam 1985, als sie am Görlitzer Park einen Neonazi so schwer zusammenschlug, daß er wochenlang im Krankenhaus lag. "Der hatte ein Kind mit'm Baseballschläger bedroht, der Sackratte", rechtfertigt sie die Tat bis heute. Die resultierende sechsmonatige Haftstrafe im Jugendknast wurde zu ihrem persönlichen Höllentor.
"Da drin bin ick zur Junkie geworden", beschreibt sie den Wendepunkt ohne Umschweife. Heroin wurde ihr Weg, die Realität auszublenden: "Als ob einer endlich mal den verfickten Feueralarm in meinem Kopp ausgeknipst hat." Nach ihrer Entlassung 1987 war sie bereits schwer abhängig.
Die folgenden Jahre beschreibt sie als "düsta im Kopfkino" – eine Zeit, die in ihrem Gedächtnis nur in fragmentierten Bildern existiert. Um ihre Sucht zu finanzieren, arbeitete sie als Prostituierte an der Kurfürstenstraße und später am berüchtigten Bahnhof Zoo. "War nich stolz drauf," sagt sie lakonisch, "aber Junkies ham kein Stolz, nur Hunger nach dem nächsten Schuß."
MAUERFALL UND MUTTERSCHAFT
1989, während das wiedervereinigte Deutschland Sektkorken knallen ließ, stellte Nelli fest, daß sie schwanger war – "gottvafickte Scheiße noch einmal!", wie sie ihre erste Reaktion beschreibt. Trotz anfänglicher Abtreibungsgedanken kam ihre Tochter Emma 1990 zur Welt, "mitten im Vereinigungsgedöns" nach dem Mauerfall.
Die Mutterschaft stellte die Junkie-Punkerin vor ungeahnte Herausforderungen. Sie versuchte verzweifelt, clean zu werden, scheiterte aber immer wieder. Das existenzielle Drama erreichte seinen Höhepunkt, als Emma mit zweieinhalb Jahren vom Jugendamt in Obhut genommen wurde – ein Trauma, das Nelli bis heute verfolgt. Die Erinnerung an ihre schreiende Tochter, die sich an sie klammerte, während die Beamten sie wegzerrten, beschreibt sie als "schlimma als jeda Scheißentzug".
DER LANGE WEG ZURÜCK
Der Verlust Emmas wurde zum bitteren Weckruf. Ab 1993 unternahm Nelli mehrere Entzugsversuche, getrieben von der Hoffnung, ihre Tochter wiederzusehen. Nach zahllosen Rückfällen, Entgiftungen und erneuten Abstürzen gelang es ihr schließlich 1998, dauerhaft clean zu werden – eine Leistung, die sie selbst mit Verwunderung betrachtet: "Weiß auch nich genau, wie ick's geschafft hab. Vielleicht weil ick keen' Bock mehr hatte, die nächste Ratte im Sargeck zu sein."
Mit Unterstützung verschiedener Hilfseinrichtungen erhielt sie neue Papiere, Sozialhilfe und ein Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft. Die Suche nach ihrer Tochter blieb jedoch erfolglos, da die Behörden den Kontakt unterbanden. "Vielleicht war's besser so", reflektiert sie mit ungewohnter Milde. "Wat hätt ich ihr schon bieten können? 'Ne Mutta mit kaputter Fresse, kaputten Zähnen und Narben übern ganzen Körpa?"
WURSTBUDEN-RENAISSANCE
Nach Jahren des Überlebens mit Gelegenheitsjobs – vom Putzen bis zum Regaleeinräumen – fand sie 2006 schließlich ihre Stellung in einer Currywurstbude in Hamburg, wo sie bis heute arbeitet. Ihre Chefin Thea vom Schulterblatt erkannte in ihr die perfekte Besetzung für den Job: "Du bist zwar 'ne kaputtene Olle, aber ehrlich und pünktlich."
2011 adoptierte Nelli einen verwahrlosten Straßenhund, den sie Raffzahn taufte und der seither ihr treuer Begleiter ist. "Hat ausgesehen wie ick mich gefühlt hab, damals – abjerockt und mit Bisswunden", beschreibt sie die Seelenverwandtschaft zwischen ihnen.
Heute lebt Nelli in einer winzigen Wohnung in St. Pauli, arbeitet tagsüber in der Wurstbraterei und schreibt nachts ihre blutigen Erinnerungen nieder. Trotz ihrer Versuche, Emma zu finden – über soziale Medien und private Detektive – bleibt ihr Kind ein Phantom, das in fast jeder ihrer Geschichten als Geist auftaucht.
Diese paar dürren Fakten werden Nelli nicht annähernd gerecht. Die Frau ist ein lebender, atmender, blutender Stadtplan der deutschen Straßenkultur der letzten vier Jahrzehnte. Jede Narbe in ihrem Gesicht ist ein Kapitel, jede Tätowierung ein Gedicht.
SPRACHTERRORISMUS ALS KUNSTFORM
Was Nelli Lotter für HACKFLEISCH so verdammt wertvoll macht, ist nicht ihre "literarische Begabung" (so ein Scheiß würde sie selbst am heftigsten kotzen lassen), sondern ihr absolut kompromissloser Sprachterrorismus. Die Frau schreibt nicht – sie bombardiert das Papier mit verbalen Granatsplittern, ihr Stil ist ein zuckendes, pulsierendes Monster.
Während akademisch verseuchte "Sprachexperten" darin "synthetische Dialekte als Ausdruck fragmentierter Identitäten" sehen (ja, so ein Scheiß wurde wirklich über sie geschrieben), ist die Wahrheit viel einfacher: Nellis Sprache ist ein perfekt funktionierender Schutzschild, hinter dem sich eine scharfsinnige Beobachterin und schonungslose Chronistin verbirgt.
Ihre Texte handeln von den Überlebenskämpfen der Unterklasse – nicht die hübsch aufbereiteten Gossen-Märchen, die im Feuilleton gefeiert werden, sondern echte Straßenrealität. In ihren Geschichten tauchen keine Instagram-Models mit vorgetäuschten "sozialen Problemen" auf, sondern echte Kaputte: Junkies, Stricher, Obdachlose, Geprügelte, Missbrauchte, Überlebende.
HACKFLEISCH-KRIEGERIN
Für HACKFLEISCH ist Nelli Lotter der authentische Gegenpol zu all den College-Absolventen, die in ihren Kreativschreibkursen gelernt haben, wie man "Unterschichtenprosa" fabriziert. Die Frau mußte nicht recherchieren, wie sich Heroinentzug anfühlt oder wie es ist, wenn einem das eigene Kind weggenommen wird – sie hat es erlebt, überlebt und in Sprache verdichtet.
"Nelli ist wie ein rohes Stück Fleisch, das noch zuckt," sagt HACKFLEISCH-Herausgeber Karl Nagel. "Während andere Autoren ihre Texte polieren und glätten, läßt sie ihre Worte bluten und krampfen. Genau das brauchen wir – keine sterile Nabelschau von Kulturbetriebs-Marionetten, sondern echte Wunden in Textform."
Ihre Geschichten in HACKFLEISCH knallen wie Schüsse aus dem Hinterhalt: "Notschlafplatz" handelt von einer Obdachlosen, die in der Kälte erfriert, während sie von einem Luxushotel träumt; "Muttavapiss" erzählt von der generationsübergreifenden Gewaltspirale in einer Familie; "Raffzahns Rache" beschreibt, wie ihr treuer Hund einen aufdringlichen Freier in die Flucht schlägt.
Aber unterschätzen Sie nicht den galligen Humor in ihren Texten. Nelli kann über das Elend lachen – nicht weil es lustig ist, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist, nicht daran zu zerbrechen. Ihre Geschichte "Currywurstschlacht am Schulterblatt", in der sie beschreibt, wie sie einen übergriffigen Kunden mit heißer Currysoße überschüttet, ist ein Meisterwerk brachialer Komik.
KEINE SCHEISS LITERATIN
Im Gegensatz zu vielen HACKFLEISCH-Autoren, die sich in bewußter Opposition zum Literaturbetrieb positionieren, ignoriert Nelli diesen schlicht komplett. Für sie ist das Schreiben kein kultureller Akt, sondern eine Notwendigkeit – wie Atmen oder Pissen. "Schriftstellerin? So'n Quatsch!" sagt sie. "Ick bin Pommeswender und Geschichtenschreiberin, fertich. Die Leute mit die feinen Nasen und Literaturpreise könn'n mek ma richtig am Arsch lecken, vadammich!"
Sie schreibt nachts an ihrem Küchentisch in ihrer winzigen St. Pauli-Wohnung, nach Schichten in der Wurstbude, mit einem Kugelschreiber in ein abgenutztes Notizbuch. Diese Texte tippt sie später mühsam auf einer alten Schreibmaschine ab (Computer hasst sie – "die spionier'n dek aus!"), bevor sie sie an die Redaktion schickt – per Post, nicht per E-Mail.
Trotz dieser archaischen Arbeitsweise (oder gerade deswegen) sind ihre Texte von einer Unmittelbarkeit, die jeden Leser wie ein Schlag in die Magengrube trifft. Ihre Kurzgeschichtensammlung "Kohldampf und Knast" (erschienen bei einem winzigen Underground-Verlag) hat sich durch Mundpropaganda zu einem Kultbuch entwickelt. Ihr Roman "Emmakind", in dem sie die Suche nach ihrer verlorenen Tochter beschreibt, ist brutaler als jeder Horror-Splatter.
In einer Zeit, in der selbst "Underground-Literatur" oft von Marketing-Strategen orchestriert wird, ist Nelli Lotter die letzte echte Punkerin im deutschen Blätterwald. HACKFLEISCH ist stolz darauf, ihre ungefilterte Straßenpoesie in die Welt zu schreien – als Gegengift zum sterilen Einheitsbrei des Mainstream-Kulturbetriebs.
WARNHINWEIS FÜR FEINSINNIGE
Ein letzter Ratschlag für alle, die sich an Nellis Texte wagen: Erwartet keine sensiblen Coming-of-Age-Geschichten oder feinfühlige Milieustudien. Nellis Prosa ist wie ein Kopfstoß – direkt, brutal und ohne Vorwarnung. Ihre Texte riechen nach Schweiß, Blut und Erbrochenem, nach dem Leben am äußersten Rand.
Wenn ihr nach dem Lesen nicht mit Herzrasen aufwacht oder den Geschmack von Straßenstaub im Mund spürt, habt ihr nicht richtig gelesen. Denn Nelli Lotter schreibt nicht, um euch zu unterhalten – sie schreibt, um euch in die Fratzen der Realität zu stoßen, die ihr so verzweifelt zu ignorieren versucht.




